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Martin Fischer

Rodney Stone

Arthur Conan Doyle

Verlag 28 Eichen, 2015

(mit zwölf weiteren Übersetzerinnen)

Leseprobe:

England begab sich zu jener Zeit früh zur Ruhe, gab es doch nicht viele, die sich den teuren Kerzenschein leisten konnten. Als ich um kurz nach zehn aus dem Fenster schaute, brannte außer im Gasthof kein einziges Licht mehr im Dorf. Mein Fenster lag nicht weit über dem Boden, und ich sprang einfach hinaus. Jim wartete schon an der Ecke der Schmiede. Wir gingen über St. John’s Common, dann vorbei an Riddens Farm, und abgesehen von dem einen oder anderen berittenen Ordnungshüter begegneten wir niemandem. Es wehte eine steife Brise und der Mond lugte immer wieder durch die Lücken in den dahinziehenden Schleierwolken, sodass der Weg bald silberhell, bald stockfinster vor uns lag und wir in den Brombeer- und Stechginstersträuchern landeten, die ihn säumten. Endlich gelangten wir an das hölzerne, von hohen Steinsäulen flankierte Eingangstor am Straßenrand. Durch die Stäbe erspähten wir den langen, unheildrohenden Tunnel der Eichenallee, an dessen Ende die fahle Fassade des Hauses im Mondschein schimmerte.

Allein der Anblick und der nächtliche Wind, der im Geäst seufzte und stöhnte, hätten mir schon mehr als genügt. Jim aber schwang das Tor auf, und los marschierten wir über den knirschenden Kies. Hoch ragte das alte Gemäuer über uns auf, mit den vielen kleinen Fenstern, in denen der Mond glitzerte, und dem Wassergraben, der es an drei Seiten umgab. Wir standen direkt vor der gewölbten Tür, neben der ein Fenstergitter offen in den Angeln hing.

„Wir haben Glück, Roddy“, flüsterte Jim. „Hier steht ein Fenster offen.“

„Meinst du nicht, wir sind schon weit genug gegangen?“, fragte ich zähneklappernd.

„Ich helfe dir hoch.“

„Nein, nein, nicht ich zuerst!“

„Dann eben ich.“ Er fasste das Sims, und schon war er mit einem Knie oben. „Jetzt gib mir deine Hände, Roddy!“ Mit einem Ruck zog er mich hinauf, und einen Augenblick später befanden wir uns im Spukhaus.

Wie hohl es klang, als wir auf den Holzboden hinuntersprangen! Dieses Schallen und Hallen kam so plötzlich, dass wir eine Weile mucksmäuschenstill dastanden. Dann prustete Jim los.

„In was für einem ollen Kasten sind wir da bloß gelandet!“, rief er aus. „Machen wir Licht, Roddy, damit wir sehen, wo wir sind.“

Aus der Hosentasche zog er Kerze und Zunderbüchse. Im Schein der Flamme sahen wir eine gewölbte Steindecke über unseren Köpfen und rundherum breite Holzregale voll verstaubten Geschirrs. Das war die Spülküche.

„Ich geb dir eine Führung“, sagte Jim vergnügt, sprach’s und stieß die Tür auf, die in die Eingangshalle hinausführte. Mir sind die hohen, eichenvertäfelten Wände noch in Erinnerung, von denen Rotwildtrophäen in den Raum ragten, sowie eine einzelne weiße Büste in der Ecke, bei deren Anblick mir fast das Herz stehenblieb. Viele Zimmer gingen von dieser Halle ab und wir durchstreiften sie eines nach dem anderen: die Küchen, die Vorratskammer, das Wohnzimmer, das Speisezimmer, allesamt vom gleichen erstickenden Staub- und Schimmelgeruch erfüllt.

„Hier haben sie Karten gespielt, Jim“, sagte ich mit gedämpfter Stimme. „An genau diesem Tisch.“

„Da liegen die Karten ja noch!“, rief er und hob ein braunes Tuch, das mitten auf der Anrichte lag. Tatsächlich kam ein Haufen Spielkarten zum Vorschein. Niemand hatte sie seit jener tragischen Partie, die vor meiner Geburt gespielt worden war, angerührt.

„Wohin wohl diese Treppe führt?“, fragte Jim.

„Geh da bloß nicht rauf, Jim!“, rief ich und ergriff seinen Arm. „Da geht’s bestimmt zum Mörderzimmer.“

„Woher willst du das wissen?“

„Der Pfarrer hat gesagt, sie hätten an der Decke – Meine Güte, Jim! Man sieht’s immer noch!“

Er hielt die Kerze in die Höhe, woraufhin ein großer, dunkler Fleck auf dem weißen Putz sichtbar wurde.

„Ich glaube, du hast Recht“, sagte er. „Aber sei’s drum, ich muss mir das ansehen.“

„Nein, Jim, nicht!“, flehte ich.

„Ruhig Blut, Roddy! Du kannst ja hier unten bleiben, wenn du dich fürchtest. Bin in einer Minute wieder da. Eine Geisterjagd wäre doch aussichtslos, wenn man nicht – Großer Gott, da kommt etwas die Treppe herunter!“

Ich hörte es auch – ein Schlurfen im Zimmer über uns, dann knarrte die erste Treppenstufe, die zweite, die dritte. Jims Gesicht sah aus wie aus Elfenbein geschnitzt, mit geöffnetem Mund und aufgerissenen Augen, die das schwarze Viereck am Fuß der Treppe fixierten. Noch immer hielt er das Licht, doch seine Hände zitterten, und mit jedem Zucken sprangen die Schatten von den Wänden an die Decke. Ich selbst hatte so weiche Knie, dass ich mich nicht mehr aufrecht halten konnte und mich hinter Jim niederkauerte, einen erstickten Schrei in der Kehle. Die Schritte näherten sich langsam, Stufe um Stufe.