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Martin Fischer

Adele: Ihre Songs, Ihr Leben

Sean Smith

Harper Collins, 2017

(mit Heike Holtsch)

Leseprobe:

An der BRIT School lernte man auch, wie man einen Song produziert, und zwar mit sämtlichen Arbeitsschritten: von der ersten Idee über eine Arbeitsversion bis hin zur Endfassung, die geprobt wurde, bis man sie im schuleigenen Tonstudio aufnehmen konnte. Zu guter Letzt kam ein Liveauftritt. Liz Penney und Conor Doherty waren die Spezialisten für Weltmusik, Tony Castro leistete Hilfe bei der Komposition, Chris McInnes war für computerbasierte Musik zuständig, und Declan Cunningham war der Aufnahmeleiter im Studio der BRIT School. Von ihm ließ sich Adele alles Wissenswerte über Tonaufnahmen erklären. Und diese Informationen saugte sie auf wie ein Schwamm.

Adele und ihre Mitstreiter probten in einem trostlosen Nebengebäude, das alle nur „The Shed“ ‑ den Schuppen ‑ nannten. Einer der Absolventen von damals erinnert sich: „Es war alles andere als ein Vorzeigeobjekt. Musste es auch nicht. Genau das entsprach ja dem Ethos der Schule. Was zählte, waren deine Lehrer und Mitschüler und nicht topmoderne Technik oder irgendwelche schicken Möbel.“

Er erzählt, dass Adele ihre Songs auch live spielte, und zwar in einer etwas düsteren, aber sehr beliebten Location auf der London Road in West Croydon, die The Cartoon Club hieß. Dann strömten die Schüler mit gefälschten Ausweisen in das schummrige Gebäude, dessen Wände mit Graffiti beschmiert waren.

„Es war ein ziemlich übler Laden. Ich erinnere mich aber, dass ich da zum ersten Mal My Same gehört habe. Auf dem Heimweg haben wir dann alle laut ‚We do-oo‘ gesungen.“

My Same ist ein Song, den Adele über ihre beste Freundin Laura Dockrill schrieb. Der Titel ist ironisch gemeint, denn eigentlich geht es in dem Song besonders um die Unterschiede ‑ ähnlich wie in George Gershwins Klassiker Let’s Call the Whole Thing Off: „You like to-may-to and I like to-mah-to …“ Adele drückt in ihrem Song aus, wie unterschiedlich die beiden sind, und dennoch passen sie perfekt zueinander. So sitzt Adele lieber bequem auf einem Stuhl, wohingegen sich Laura einfach auf den Boden hockt. Wüsste man es nicht besser, könnte man den Song fast für ein Liebeslied halten.

Ironischerweise stritten sich die beiden, kurz nachdem Adele diese Hymne auf ihre Freundschaft geschrieben hatte, so schlimmen, dass sie jahrelang nicht mehr miteinander sprachen – an den Grund dafür konnte sich Adele später nicht mehr erinnern. Dass sie sich wieder zusammenrauften, haben sie übrigens ihrer Kollegin Jessie Ware zu verdanken.

Jessie, die an einem gemeinsamen Projekt mit Laura arbeitete, traf Adele auf einer Silvesterparty und erzählte ihr: „Ich sehe Laura ziemlich oft. Sie vermisst dich sehr.“ Und Adele musste zugeben: „Ich vermisse sie auch.“ Nach dieser Begegnung fasste sich Adele ein Herz und rief ihre frühere Freundin an. Es folgte eine tränenreiche Aussprache, und die beiden verabredeten sich zu einem Treffen. Von da an waren sie wieder ein Herz und eine Seele, als wäre nie etwas gewesen. Adele war so froh darüber, dass sie sich 2011 bei ihrem Auftritt in der Royal Albert Hall bei Jessie in aller Öffentlichkeit bedankte und Laura unter dem Applaus des Publikums auf die Bühne holte.

Der dritte bemerkenswerte Song, den Adele in ihrer Zeit an der BRIT School komponierte, heißt Daydreamer und handelt von einem Jungen, der so schöne Augen hatte, dass die Mädchen nur so dahinschmolzen. Adeles Liebesleben gibt ihren Freunden rückblickend einige Rätsel auf. Sie war eindeutig in einen gut aussehenden Jungen verknallt, der einen Jahrgang unter ihr war und das Fach Musik belegt hatte. Aber ob zwischen den beiden etwas gelaufen ist, kann niemand so genau sagen.

Eine Freundin sagt dazu: „Soviel ich weiß, hat sie nie mit Jungs rumgemacht oder so was. Sie war irgendwie der ewige Single. Wenn ich mich nicht täusche, hatte sie die ganze Zeit über keinen Freund.“

Jedenfalls war Adele offenbar total verknallt in diesen Jungen. Und wie Teenager es so machen, versuchte sie, in der Schulkantine seine Aufmerksamkeit zu erregen und herauszufinden, wie er seine Freizeit verbrachte. Das Problem war, dass er anscheinend bisexuell war. Adele fand es schon schwer genug, sich gegen Nebenbuhlerinnen zu behaupten. Wie sollte sie es da auch noch mit männlicher Konkurrenz aufnehmen?

Auf einer Party brachte Adele dann endlich den Mut auf, ihm ihre Gefühle zu offenbaren, und war überglücklich, als er sagte, er fühle sich auch zu ihr hingezogen. Was dann geschah, schildert sie folgendermaßen: „Er hat einen meiner besten Freunde geküsst, und ich dachte: ‚Auf den kann ich verzichten!‘“ Später konnte sie darüber lachen, aber damals fand sie das gar nicht witzig. „Ich dachte: ‚Wir sind noch nicht mal zusammen, und da betrügt der mich schon!‘ In Daydreamer habe ich ihn so beschrieben, wie er in meiner Fantasie hätte sein sollen … In meinem Tagtraum eben.“

Den Song schrieb sie dann auf dem Rücken liegend, neben sich senkrecht die Gitarre. Bei einem Ausflug zu den BRIT Awards am Earls Court hatte sie sich nämlich einen Bandscheibenvorfall zugezogen. Der Verleihung der BRIT Awards beizuwohnen, gehörte zu den Privilegien, wenn man die gleichnamige Schule besuchte. Außerdem musste sie sich auch noch mit einer schlimmen Grippe herumschlagen und ständig niesen. Es grenzt also an ein Wunder, dass der Song überhaupt was wurde.

Das Ergebnis klingt ein wenig nach einem Folksong, ähnlich wie Hometown Glory. Man sieht Adele geradezu vor sich, wie sie lässig im Shed auf einem Hocker sitzt, Gitarre spielt und jeden Ton perfekt rüberbringt. Ein bisschen Liebeskummer schwingt natürlich mit, aber der Song hat nichts Bitteres oder Melancholisches. Vielmehr bringt sie darin ihre Sehnsucht nach einer perfekten kleinen Welt zum Ausdruck: einen Jungen, der den Arm um sie legt und sie beschützt. Aber die Enttäuschung hatte auch ihr Gutes: Sie war die Inspirationsquelle für einen der Songs, mit denen Adele den Durchbruch schaffte.